Kippmomente

„Das Kunstwerk, in Marmor gehauen, in Bronze gegossen, mit Lack fixiert, in Kupfer oder Holz eingraviert, ist nur scheinbar unbeweglich. Es drückt einen Wunsch nach Festigkeit aus, es ist ein Stillstand, wie ein Augenblick in der Vergangenheit. In Wirklichkeit entsteht es aus einer Veränderung heraus und es bereitet eine andere Veränderung vor.“

Henri Focillon

Es ist sonderbar. Als ich Plastiken von Ulrike Buhl zum ersten Mal begegnete, musste ich an die Figur des Aktäon denken. Es ist sonderbar, denn ich hätte doch in diesen abstrakten Körpern voller Dynamik und Energie eher Wolken, Blasen, Rauch oder gar Organe sehen können. Diese Assoziationen lagen nahe, aber der unglückliche Jäger drängte sich mir auf. Nach Ovids Erzählung verwandelte die Waldgöttin Artemis den jungen Aktäon – hier als pure Kreatur und nicht als mythologischer Held und noch weniger als moralische Metapher gemeint – in einen Hirsch, weil er sie nackt beim Bade überrascht hatte. In der klassischen Ikonografie wird er meistens in einem Zwitterzustand dargestellt, also just in dem Moment seiner Metamorphose, noch nicht Tier aber schon nicht mehr Mensch. Eine Transformation findet statt, die Materie verändert ihre Struktur, die feste Linien geraten in Bewegung, lösen sich auf und gehen in eine neue Gestalt über. Für Künstlerinnen und Künstler von der Antike bis heute, besteht die Herausforderung des Motivs darin, dieses Fließen der Formen mit Mitteln der Fixierung von Formen auszudrücken. Genau darin liegt meines Erachtens die Herausforderung der Praxis von Ulrike Buhl und, scheinbar, ihre künstlerische Agenda.     

Wie die Arbeiten von Hans Arp, Barbara Hepworth, Henri Moore oder (mit Einschränkungen) François Stahly und Peter Agostini beweisen, hat die Auseinandersetzung von modernen Bildhauer*innen mit fluiden und weichen Formen Tradition. Diese organischen Abstraktionen unterhalten einen hohen Analogiegrad zum Natürlichen und verbinden alle eine gewisse Vorstellung von Harmonie und Anmut. Mit Norbert Kricke und seinen explosiven Gebilden, die den Raum regelrecht zerbersten, kommt zusätzlich zum Biomorphen eine energetische Dimension dazu, wobei seine Kompositionen linienbetont sind und eine eher mittelbare Behandlung der Volumina vornehmen. Ulrike Buhls Kunst erscheint als synthetische Verbindung dieser beiden Tendenzen: Ihre Plastiken sind amöben-, bzw. blobhafter Natur, aber ihre innere Dynamik, dieser spürbaren Drang der Formen zum Außenraum hin, lenkt die ganze Aufmerksamkeit vom Vollplastischen ab, um auf ihre Kraft, auf ihre Energie zu verweisen.

Form und Kraft sind also die zwei Prinzipien, die in Ulrike Buhls Kunst vereint werden. Wie die Prinzipien Raum und Zeit, die sie auf einer untergeordneten Ebene vertreten, verhalten sich Form und Kraft antagonistisch zueinander, sind aber eng miteinander verbunden. Diese widersprüchliche Verknüpfung könnte mit einer plastischen Metapher veranschaulicht werden: Bei einer gepressten oder getriebenen Metallplatte gehört jeder Vorsprung auf der einen Seite mit den Vertiefungen auf der anderen Seite zusammen. Das Prägen ist genauso unzertrennlich vom Eingeprägtsein, wie die Handlung (Kraft) unzertrennlich von ihrer Auswirkung in den Raum (Form) ist. Und doch stehen beide Prinzipien in einem Spannungsverhältnis zueinander. Die Form verwirklicht sich erst, wenn sie jede Kraftwirkung ausschließt; umgekehrt wird eine Kraft nur dann verwirklicht, wenn sie jede Form eliminiert, die sie zu fixieren versucht. Diese Dualität gilt nicht nur im Kunstfeld, sondern kennzeichnet grundsätzlichere Phänomene. Das Leben teilt sich nämlich auf in die Notwendigkeit, sich dauerhaft zu etablieren, also solide zu sein, und in die Notwendigkeit, sich ständig weiterzuentwickeln und zu verändern. Zwar strebt die Materie von Natur aus nach Konsistenz, doch erst durch ihr Zusammentreffen mit Kräften gelangt sie zur Form. Die Form ist das Ergebnis des Kampfes zwischen der inneren Kraft des Zusammenhalts und den fremden Kräften, die sie stören. 

Gerade diese Wechselbeziehung wird in Buhls Kunst ganz deutlich sichtbar. Und gerade diese Wechselbeziehung hat mich an Aktäon erinnert, die verkörperte Manifestation (und das Opfer) der dialektischen Differenz zwischen Form und Kraft. Die Arbeiten von Ulrike Buhl halten stets die Balance zwischen beiden Entitäten – ja, es geht in dieser skulpturalen Praxis sogar um nichts anderes als die Balance zwischen Kraft und Form. In Werken wie „Zumba“ und „Bobobs“, oder in der gesamten „Implosion“-Reihe erleben wir die Entstehung der Form als Ergebnis von Krafteinwirkungen, die, wie es scheint, im Augenblick ihrer Betrachtung immer noch operieren (wobei dies gerade die entscheidende Illusion, den meisterlich beherrschten „Trick“ der Bildhauerin darstellt). 

Wir erleben – überhaupt – die Entstehung von etwas; vielleicht einem Objekt (eher nicht, es ist zuviel Potenz in diesen Prozessen), einem Naturphänomen, vielleicht einem Lebewesen, einer Larve im Frühstadium, den Knospen einer bizarren Frucht… Die Körper sind trächtig. Sphärisch, prall, sich ausdehnend. Sie pulsieren unter der vitalen Energie, die sie animiert. Sie sind proppenvoll und gleich, im nächsten Augenblick, werden sie gebären. Es ist ein Aufblühen, ein Aufbrechen, ein Ausschlüpfen. Der Aufbruch eines Vulkans, das Laichen eines Hybridwesens, das Anschwellen eines Muskels. Buhls Arbeiten strahlen eine grundsätzliche Sexualität aus, und damit meine ich nicht die vermenschlichte, erotische Sexualität, sondern jenen unaufhaltbaren Fortpflanzungstrieb, der die Lebenszyklen von Pflanzen und Tieren bestimmt. Ich reite noch ein wenig auf dieser Metapher herum: Form und Kraft sind wie zwei feindliche Liebhaber, die sich bedingen und nicht ohne einander leben können. Ulrike Buhl inszeniert ihre Begegnung, ihren Flirt, ihren Streit, und macht daraus einen lustvollen Tanz. 

Die Künstlerin bewegt sich selbst auf einem dünnen Seil. Jede Entscheidung, jede Geste, jedes Material, jede Form entsteht im Spannungsverhältnis zwischen Bewegung und Stille, zwischen Zufall und Steuerung. Ihre Suche gilt dem kaum bestimmbaren Bereich des Dazwischen, dem paradoxen Raum, in dem die Zeit vorherrscht. Ulrike Buhls künstlerische Leistung besteht darin, jenes Momentum festzuhalten (aber eben: nicht zu fest!), wenn das Flüssige massiv wird, wenn das Artifizielle sich als Natur tarnt, wenn die Kraft in einem Gefüge aus Massen und Linien erstarrt, wenn die Unform Form wird. Sie sucht die Kippmomente, und sie macht diese zum hauptsächlichen Sujet ihrer skulpturalen Praxis.   

Dr. Emmanuel Mir, Düsseldorf

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Henri Focillon, The Life of Forms in Art [1934], trans. George Kubler (New York 1992), p. 41.

 

 

Ulrike Buhl

kommt vor allem aus der Bildhauerei und der Installation. Ambivalent, sich ständig verändernd, mutiert, sind Buhls Arbeiten futuristische skulpturale Installationen, die eine Welt im ständigen Wandel darstellen. Ihre Arbeiten oszillieren zwischen schön und bedrohlich, menschengemacht und natürlich. Einerseits deuten die optischen Merkmale der Stücke automatisch auf etwas Unnatürliches, Menschengemachtes und Anorganisches hin; Durch die visuellen Qualitäten des schimmernden Autolacks und der glänzenden Oberflächen werden wir auf etwas Wundersames und Magisches vorbereitet. Andererseits sind die Formen biomorph, natürlich und spontan, sie ähneln vergrößerten Virenstrukturen oder Mikroorganismen und symbolisieren den endlosen Kreislauf der Schöpfung, der in der Natur zu finden ist. Die Energie in den Werken ist eskalierend und es fühlt sich an, als würden sie jederzeit explodieren.

Die Skulpturen erzählen uns die Geschichte einer fiktiven Kosmologie, eines biologischen Urknalls, der erst noch kommen wird. Der Prozess der Mutation wird zum Zeugen einer dystopischen Zukunft, sollte die Menschheit die Ressourcen weiterhin so erschöpfen wie jetzt. Dabei trifft Buhl keine moralischen Entscheidungen und überlässt dem Betrachter seine eigene Interpretation. Die Werke befinden sich in einer ständigen Entwicklung – Buhl begrüßt den Wandel und den Zufall, sie lässt ihn in das Werk eindringen und seine Ästhetik prägen. Buhl spricht vom Universum, von der Biologie und letztlich von den Tiefen der menschlichen Psyche; ihre Werke bleiben Manifeste der Unberechenbarkeit des Lebens und im weiteren Sinne der dem Menschen innewohnenden Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen. Im Lichte der Covid-19-Krise hat Buhls Werk eine neue, unerwartete Bedeutung erlangt, die ihren Ansatz aktueller denn je macht.

Vanessa Souli, Berlin

 

 

Das Mysterium des ewigen Werdens und Wandelns

Gedanken zu den aktuellen Arbeiten von Ulrike Buhl

Panta rhei. Nach der Heraklitischen Lehre ist alles im Fluss und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln. Dasselbe könnte man in Bezug auf die eigenwilligen plastischen Arbeiten von Ulrike Buhl behaupten, die von einer organischen – oder vielmehr biomorphen – Formensprache geprägt sind. Es sind Gebilde und Gestalten, die scheinbar aus sich selbst heraus entstehen. Es handelt sich hierbei um eine Art Orthogenese, bei der die Plastiken offenbar eine innere Tendenz besitzen, sich organisch immer weiterzuentwickeln, da sie von einer mysteriösen inneren Triebkraft gesteuert werden. Hierbei geht es nicht um eine evolutionäre Entwicklung, sondern um einen offensichtlich schlagartig einsetzenden Prozess. Man stellt sich vor, wie sich ein erneuter »Big Bang« en miniature immer wieder im Atelier der Künstlerin ereignet – ein wirbelnder Mahlstrom oder gar eine Implosion, die nicht zur Zerstörung, sondern zur Schöpfung führt. Doch der Entstehungsprozess scheint noch nicht vollendet zu sein. Vielmehr sehen wir eine Art Zwischenstand – als ob die Metamorphose noch voll im Gange wäre. Das »Werden« – vielmehr als das »Sein« – spielt also eine herausragende Rolle. Buhls Plastiken sind noch im Begriff zu werden und stellen daher eine kontinuier­ liche Metamorphose dar. 

Durch das Werden entsteht eine innere Dynamik – oder vielleicht auch umgekehrt. Und doch sind Ulrike Buhls Plastiken tatsächlich statisch, machen aber den Eindruck, als würden sie vibrieren bzw. pulsieren. Sie scheinen förmlich zu atmen. Eine scheinbare Magie der Formgebung, die durch viele Rundungen bestimmt wird. Der Kreis, die Sphäre und andere gerundete, geschwungene Formen implizieren Bewegung und symbolisieren gleichzeitig den unendlichen Kreislauf der Natur. Ob wir es hier aber mit einem Mikro­ oder Makrokosmos zu tun haben, bleibt völlig offen. So wirken Buhls Plastiken gelegentlich wie Modelle, sowohl im buchstäblichen als auch im über­ tragenen Sinne. Denn sie sind auch modellhaft im Sinne eines neuartigen künstlerischen Umgangs mit der Natur und den Naturphänomenen. Buhls Plastiken sind nicht abstrakt – sie finden ihren Ausgang nicht, wie man vielleicht vermuten würde, in der Natur, bilden die Natur nicht ab, genauso wenig wie sie die Natur verfremden. Im Gegenteil. Vielmehr stellen sie eine Art Kosmogonie dar – ein Erklärungsmodell zur Entstehung und Entwicklung der Welt – sowie eine Hypothese darüber, wie die Natur der zukünftigen Welt aussehen könnte; eine Natur, die vermehrt und verstärkt von Menschen manipuliert, verändert und bestimmt wird. 

Zusätzliche Dynamik entsteht durch Buhls Verwendung von Effektlack, der eine eigenwillige optische Wirkung erzeugt ( es ist sicherlich kein Zufall, dass Effektlack vorwiegend in der Autoindustrie Verwendung findet – dort also, wo es häufig auf Geschwindigkeit und Dynamik ankommt, wo die Zukunft wichtiger ist als die Gegenwart). Die spiegelnden, glitzernden Oberflächen reflektieren das Licht und teilweise auch ihre Umgebung. Für den Betrachter scheint sich die Farbigkeit je nach seinem eigenen Standpunkt kontinuierlich zu verändern. Durch den Speziallack scheinen die biomorphen Gebilde zu fließen und sich ständig zu wandeln. Doch paradoxer­ weise setzen sich Buhls Werke gleichzeitig durch den Effektlack vom Organischen ab, denn auch wenn sie hier und da in der Natur vorkommt – beispielsweise bei bestimmten Gattungen von Schmetterlingen und Käfern, aber auch bei manchen exotischen Fischen –, weckt die metallisch schimmernde Farbigkeit im Zusammenklang mit der Formgebung eher Assoziationen zu Hightech und Science­Fiction. Wenn sie überhaupt von dieser Erde sind, dann handelt es sich um eine zukünftige Erde, die noch nicht als solche existiert. Auch sie ist also noch im Werden. 

Gelegentlich wirken die glitzernden Oberflächen der Plastiken von Ulrike Buhl brüchig – wenn die Oberflächen nicht so fließend anmuten würden, könnte man fast meinen, sie wären spröde. Durch diese »Makel« in den sonst so perfekten Oberflächen wird der prozesshafte Charakter der Werke weiter betont. Risse, Spalten und Lücken sind vielleicht als Zeugnisse der noch stattfindenden Metamorphose der künstlichen Geschöpfe zu verstehen; so also ob sie im Begriff wären, sich zu häuten. Sie scheinen förm­ lich aus sich selbst heraus zu platzen. 

Alles ist im Fluss – und doch bleibt etwas. Es sind die ihnen innewohnenden Widersprüche, die Buhls Plastiken so überaus faszinierend machen. Mikrokosmos und Makrokosmos, Kunst und Wissenschaft bzw. Technologie, Urwesen und Kreaturen aus der entfernten Zukunft, halb Organismus und halb Hightech. Sie befinden sich in einem unaufhörlichen Zustand des Werdens, und doch sind sie vollendet. Aber genau das macht sie aus – und genau das bestätigt ihre enge Verwandtschaft mit der Heraklitischen Lehre, die eine Einheit aller Dinge – also auch der Widersprüche und des Unerklärlichen – postuliert. Aus allem eins und aus einem alles. Man darf auf die weitere Entwicklung der Buhlschen Kosmogonie gespannt sein. 

Gérard A. Goodrow, freier Kurator und Autor, Köln 

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